Sevdije Mascher

Ich bin im ehemaligen Jugoslawien/Kosovo in einer Familie von Politikern aufgewachsen. Meine Mutter hat meine beiden Brüder und besonders mich streng erzogen, da dies bei Mädchen üblich war. Meine Kindheit verlief dennoch sehr gut. Wir lebten direkt in Pec, einer Großstadt.

Eines Tages schickte mich meine Mutter zum Brot einkaufen. Ich war sechs Jahre alt. Nachdem ich über unsere Straße über einen Hügel in die Stadt hinein ging, als junges Mädchen (jung, verspielt, kindisch) kaufte ich das Brot, ging mit dem Brot unter dem Arm nach Hause und hab stückweise das Brot gegessen.

Damals hatten wir bei uns noch keinen Fernseher.
Als ich schon in unserem Weg war, sah ich das erste Mal in einem Haus einen Fernseher. In diesem Moment habe ich das erste Mal einen Film gesehen und das war damals ein Karatefilm. Ich wusste nicht, was Karate ist, bin aber stehen geblieben - nebenbei das Brot essend - und habe den Film angeschaut. Er hat mich so begeistert, dass ich oft an diesen Film denken musste. Ich träumte Tag und Nacht von ihm und wusste, dass ich das auch gerne machen würde. Doch Mädchen durften das damals noch nicht.

Noch immer bei dem Fenster hörte ich eine laute Stimme. "Sevdije, wo bist du?" suchte mich meine Mutter in der Straße. Der Film hat mich so abgelenkt, dass ich vergaß nach Hause zu gehen. Als ich ihre Stimme erneut hörte lief ich sofort nach Hause. Meine Mutter fragte, wo ich war, gab mir ein paar Hinterklapse und sagte "Wo ist das Brot?"
Das Brot war weg - leider schon zur Hälfte aufgegessen.
Meine Mutter fragte "Wo warst du?"
"Mama, ich hab sowas noch nicht gesehen - einen Film!"
Mein Bruder meinte, das nächste Mal gäbe es Hausarrest.
Ich war mit meinen Gedanken aber immer noch beim Karatefilm und versuchte immer wieder mit Ausreden aus dem Haus zu gehen und erneut diesen wunderbaren Fernseher zu betrachten.
Mein Onkel hatte sich in der Zwischenzeit einen Fernseher gekauft und holte mich immer wieder zum Fernsehen. Doch so schnell kam kein Karatefilm mehr.
Zu Weihnachten bekamen wir von ihm einen Fernseher geschenkt, aber leider gab es immer noch keinen Karatefilm .

Mein Bruder erzählte mir von Jackie Chan-Filmen im Kino. Aber Kinder durften nicht gucken. So nahm er mich heimlich mit. Mein erstes Mal im Kino!
Mein Bruder sagte "Eines Tages wirst auch du Karate machen".

Eines Tages bekamen wir Besuch von Verwandten, einem Sportlehrer aus der Hauptschule. Ich fragte ihn "Kennst du Karatefilme?" - "Wieso?" "Weil ich das unbedingt lernen möchte! Darf ich aber nicht - als Mädchen."
Er versprach, mir ein paar Tricks beizubringen und mit mir zu üben, wenn mein Bruder weg war. Wir übten im Garten, die Nachbarn guckten - was machst du da?
Mit der Zeit waren sie daran gewöhnt. Ich musste aber vorsichtig sein, denn ich hatte sehr strenge Brüder.

Irgendwann habe ich aufgehört zu denken. Ich sah, es gab keine Chance, das zu lernen. Träumte aber immer noch davon, musste es vergessen.

Als ich nach Kötschach in Österreich gekommen bin, gab es kein Karate, überhaupt keinen Sport dieser Art

Nach vielen Jahren kam meine Tochter und fragte: Mama, ich möchte einen Kurs machen, einen asiatischen Kurs, erlaubst du mir das?
"Was ist das?" "Ach, das ist ein asiatischer Sport, nix Besonderes."
"Ja, ok", Erlaubnis erteilt. 3 Wochen später fragte ich meine Tochter wie jeden Sonntag ob sie mitkommt spazieren gehen. Nein, sie musste üben.
Als sie zurück kam und mit einem Sprung auf mich zu sprang, fragte ich sie "hä"? Sie sagte, sie musste üben.
"Was ist das?"
Es durfte nicht weitergesagt werden, was sie alles gemacht haben, das war geheim.

2 Wochen später, als wir wieder spazieren gingen, machte meine Tochter einen großen Spagat. Wahnsinn! Sie hat geweint weil sie nicht mehr aufkam und bat um Hilfe.
Auf meine Frage - keine Antwort. Ok.
Wir hatten Besuch, aber ich beschloss trotzdem mit meinem Besuch zur Trainingshalle zu gehen - zu gucken, was da geheim ist.
Als ich sah, dass alle einen weißen Anzug trugen und Techniken machten, die ich schon Jahre gesucht habe, wurde mir klar: das ist es, was ich machen möchte!
Ich fragte dann den Trainer, der gerade Gelbgurt war, ob ich auch mitmachen darf. "Ja natürlich" sagte er, "jederzeit".
Da wusste ich - das ist mein TRAUM nach dem ich immer gesucht habe, schon als Kind. Taekwon-Do.

Nachdem der Trainer Gelbgurt war und selber in der Ausbildung steckte, setzte sich Großmeister Son sehr intensiv ein und kam jeden Samstag mit den Schulleitern von überall her (Toblach, Lienz, Villach, St. Veit, Feldkirchen, Wien, Graz). Sie trainierten intensiv mit uns, was uns der Großmeister Son mit einer großen Energie beibrachte, nicht nur die Techniken sondern auch das Benehmen - den Respekt, die Ausdauer und die Geduld. Das hatten wir alle noch nicht. Es war sehr streng, aber ich konnte Großmeister Son verstehen, weil ich selber so erzogen wurde und wusste, wie man sich benimmt. Es war schwer, sich mit dieser koreanischen Philosophie in Verbindung zu bringen und zu verstehen, was er damit sagen möchte. Mit der Zeit lernte ich, den Menschen zu beobachten und mir meine eigene Meinung zu bilden. Und für mich zu behalten, weil ich wusste, was er damit sagen wollte und so lernte ich praktisch seine eigene Sprache.
Andere Schüler waren mit dieser Philosophie nicht richtig vertraut und versuchten sich nicht in Respekt und Geduld. Man merkte immer mehr, dass der Großmeister Son die Geduld auf die Probe stellte. Es war keine leichte Prüfung mit der Geduld, aber er arbeitete mit allen Mitteln daran, uns etwas beizubringen, ohne viel zu reden. Wir waren alle darauf angewiesen, dass wir nur durch hören und sehen in Verbindung standen. Wer sich geistig anstrengte, konnte etwas lernen. Das war klar.

Es war schwierig, mich als Frau durchzusetzen, weil Taekwon-Do im asiatischen Bereich einfach ein männlicher Sport ist. Obwohl heute viele Frauen diesen Sport betreiben, ist es immer noch schwer sich als Person zu beweisen. Ich hatte kein Problem mit Großmeister Son, er war für mich ein sehr großes Vorbild. Er hat mich akzeptiert und gewusst, dass ich sicher nicht eine Person bin, die mit einer schlechten Meinung in diesen Sport geht.

Ich trainierte sehr fleißig, am Anfang dreimal, dann bis zu sechsmal in der Woche, in Kötschach, Hermagor-Weissensee, Klagenfurt und Lienz. Es gab nicht einen einzigen Trainingstag, den ich ausgelassen hätte, außer wenn ich krank war. Sogar mit Fieber ging ich manchmal trainieren.
Weil Taekwondo mein Leben war! Das konnte mir keiner wegnehmen, außer ich mir selbst.

Nach 5 Monaten machte ich zusammen mit meiner Tochter Gelbgurt-Prüfung.
Danach habe ich schön langsam angefangen, auch das Training zu leiten wenn der Trainer nicht da war. So habe ich immer mehr gelernt und hab gewusst, eines Tages werde ich, wenn es geht, auch Trainer werden.
Als der Hermagorer Trainer die Hermagorer Schule verlassen musste, bekam mein Trainer diese Schule. Aber das war ja schon von meinem Trainer so geplant gewesen. Der Hermagorer Trainer hatte die Schule so gut aufgebaut und hatte wirklich sehr gute Schüler, die den eigenen Trainer so respektierten und wie eine Familie zusammen hielten. Die Schüler waren sehr traurig und konnten sich auf meinen Trainer nicht richtig einstellen.
Sie kamen noch ein paar Jahre, aber dann war doch in Hermagor Schluss. Diese Schüler hatten von einem ganz anderen Menschen gelernt, der wirklich etwas konnte. Er war schließlich ein von Großmeister Son gut ausgebildeter Schwarzgurt.

Mein Trainer musste erst mal schön langsam aufsteigen. Natürlich tat das Großmeister Son, so schnell war noch keiner in vier Jahren als Schwarzgurt ausgebildet wie er. Andere mussten Jahre, viele Jahre, unter Beweis stellen, dass sie einmal so weit kommen können. Die kämpften wie die Löwen. Dem einen oder anderen gelang es. Der eine fühlte sich bevorzugt, der andere benachteiligt.

Ich stand da und schaute zu wie alles abläuft. Wusste nicht, worum es geht, warum es so lief. Es hängt ja an allem. Der eine kann guten Spagat, der andere kann gute Technik, der andere kann gut denken, der andere kann keine Füße hochbringen, es mangelt den Menschen an gewissen körperlichen Fähigkeiten. So wie Großmeister Son immer ein perfekter Mensch sein wollte, so suchte er nur nach Perfektionisten. Nur leider Gottes gibt es keinen perfekten Menschen. Und so kam auch er in die Jahre und lernte, dass es auch Menschen gibt, die 20 Jahre dabei sind und immer noch Gelbgurt, Blaugurt oder Rotgurt sind. Eines Tages kam ich drauf, dass das eine eigene Philosophie ist. Ich konnte nur lernen, indem ich immer wieder sah wie das abläuft, immer wieder auch enttäuscht war, aber das war ich nicht allein, das waren auch viele andere. Und ich konnte auch lernen, dass ich auch Freude hatte. Dass nicht immer alles nur schlecht oder gut ist.

Nachdem ich nicht mehr damit einverstanden war, für den Trainer in Kötschach das Training zu leiten und er nur ab und zu kam, hatten wir bei einem Lehrgang in Lienz eine große Auseinandersetzung. Es war ihm peinlich, weil alle erfahren haben, worum es geht. Er sagte zu mir "ich hab dich immer gebraucht, aber jetzt brauche ich dich nicht mehr." Ja klar, schließlich gab es niemanden mehr, der für ihn das Training führte. Ich sagte zu ihm "ich brauche auch nicht so einen Trainer wie dich, von dir kann ich nix mehr lernen, du bist ja nur mit dir selbst beschäftigt. Es kann keiner etwas lernen". Da war er Blaugurt. Er versuchte, andere Schulleiter gegen mich zu hetzen, hatte aber keine Chance, weil auch andere drauf kamen, wie er nach Macht, Gier und Egoismus für sich dachte. Und alles sollte sich nur um ihn drehen, sonst um niemanden.
Der Lienzer Trainer fragte mich, was da los ist und ich habe ihm alles erklärt, ihm und vielen anderen Schulleitern. Er sagte zu mir "kannst bei mir sofort anfangen, da gibt's keine Probleme" und so habe ich begonnen in Lienz zu trainieren, bin gut aufgehoben gewesen und hatte einen sehr guten Trainer, der sich wirklich um mich kümmerte und merkte, dass ich nach viel mehr strebe.
Nach sechs Jahren bekam ich Blaugurt und machte den Führerschein. Da stieg ich in das Auto und fuhr 2x nach Klagenfurt zum Training.
Nach 2 1/2 Jahren Training in Kötschach ging der Trainer dann weg. Ich trainierte 3 Jahre weiter in Lienz. Nachdem ich merkte, dass es zu wenig war, wechselte ich und ging nach Klagenfurt zum Großmeister Son.
2-3x in der Woche fuhr ich nach Klagenfurt zum Großmeister. Egal, welches Wetter - Schnee, Regen Eis, Matsch - vom Training konnte mich keiner abhalten, das war meines!

Nachdem es in Kötschach keinen Trainer und keine Schüler mehr gab, überlegte Großmeister Son, ohne dass ich was wusste, dass ich die Schule in Kötschach weiter übernehmen soll, weil er schließlich diese Schule nicht so aufgeben wollte. Er wusste, es ist doch in diesem Gebiet eine Schülerin, die intensiv arbeitet und sich wirklich für diesen Sport sehr interessiert und einsetzt. Das war für Großmeister Son eine sehr große Ehre.
Großmeister Son hat alle informiert, dass ich Trainer werde, nur ich wusste noch nix davon. Er rief mich zur Rotgurtprüfung in Toblach, Südtirol. Es ging mir nicht so gut, ich hatte Fieber. Eine Woche später in Udine machte er mich zum Rotgurträger.
Er sagte "Sie müssen Training in Kötschach leiten!". Ich war überrascht. Seitdem gebe ich als Trainerin mein Bestes, um meinen Schülern mein Wissen näher zu bringen.
Es war aber nicht leicht, die Menschen zum Taekwon-Do zu motivieren. Ich musste sehr hart daran arbeiten.
Ich hatte eine Gruppe ausgebildet und dachte mir, ich werde sehr schnell als Schulleiterin den Schwarzgurt bekommen.
Ich wurde enttäuscht - musste 5 Jahre bis zur Schwarzgurt-Prüfung warten. Auch hier spielte das weibliche und männliche eine Rolle. Wäre ich nicht in ex-Jugoslawien aufgewachsen, hätte ich die Mentalität von Großmeister Son vielleicht nicht ausgehalten.
Eines Tages gingen zwei große Meister zu Großmeister Son und sagten sie möchten gerne, dass ich Prüfung mache, ich hätte es verdient. Nach dem Training - wir wollten alle duschen gehen - hielten mich beide Meister auf, ich durfte noch nicht gehen.
"Was ist los?"
"Du bleibst hier. Warte!"
Danach kam Großmeister Son und gab das Kommando. Da wusste ich: jetzt ist die PRÜFUNG!
Ich war sehr nervös. Natürlich gab es auch Fehler, weil ich durcheinander war, überrascht. Ich schaffte es trotzdem.
Nach der Prüfung bekam ich den Schwarzgurt. Ich konnte es nicht glauben, ging zu den Duschen, saß auf der Bank. Mir kamen die Tränen.
Ich dachte mir: das erste Mal ging alles auf - mein Kindheitstraum ist erfüllt worden. Frau Son sah mich weinen. Sie sagte "was ist? Sie haben den Schwarzgurt. Aber ich denke, sie haben Freudentränen." Ich sagte "ja, das stimmt".

Ich konnte nicht glauben, dass mein Traum in Erfüllung gegangen ist.

Ich habe bei Großmeister Son viel gelernt. Besonders, was wir alle gemeinsam respektiert und toleriert haben, koreanische Regeln. Die waren: jeder wusste wann Prüfung war - jeder hat sich an jeden angepasst - Höflichkeit, Respekt untereinander - der sehr wichtig war und heute immer noch ist.
Diesen Grundsatz möchte ich in meiner Schule auch weiterführen - denn gegenseitiger Respekt und angemessene Höflichkeit sind immer wichtigere Grundpfeiler der Gesellschaft.

Nachdem sich sehr viel in unserem Sport verändert hat und es viele Schüler gibt, die leider die Regeln und Grundsätze des Taekwon-Do nicht lernen wollen, verlieren sie auch den Respekt vor dem Trainer.
Ich versuche trotzdem, meinen Schülern das beizubringen, was mir Großmeister Son auch beigebracht hat. Leider kann auch der Großmeister nicht viel ändern, weil die Gesellschaft sich extrem geändert hat und denkt, immer wenn ich etwas zahle, gehört mir alles. Mit Geld kann ich mir keine Ehre und Höflichkeit kaufen. Das muss man von Herzen und vom Geist können und gelernt haben.

Es ist sehr wichtig im Leben, Liebe und Zuneigung den Kindern, dem Mann, der Familie, Schwestern und Brüdern zu geben. Das kann ich nur, wenn es vom Herzen kommt und wenn der Geist es in seinem Leben richtig aufgenommen hat. Geld kommt und geht, aber das Gefühl im Herzen und im Geist bleibt für ewig.

Mittlerweile bin ich 3. Dan - und versuche den Sport, das Taekwon-Do, weiter zu betreiben und nach den Regeln von Großmeister Son weiter zu führen.

In diesen ganzen Jahren haben sehr viele Kollegen, Trainer, mit denen ich sehr gut kommuniziert habe und von denen wirklich sehr gute und große Erinnerungen geblieben sind, das Training zurückgestellt. Es war sehr lustig, mit ihnen zu trainieren, ich war immer begeistert und trainierte immer mehr mit Freude. Ich freute mich bei jedem Training, meine Taekwon-Do-Kollegen und Kolleginnen wiederzusehen.

Die Kenntnisse und das Wissen, das mir Großmeister Son gegeben hat, werde ich an meine Schüler weitergeben. Meine Ausbildung als Diplom-Gesundheitstrainerin hilft mir, meinen Schülern zu erklären, was im Körper geschieht, wenn wir Taekwon-Do machen.

Ich bedanke mich beim Herrn Großmeister Son für sein Können und Wissen, das er uns in den ganzen Jahren beigebracht hat und danke ihm, dass wir als Trainer arbeiten dürfen und dieses Wissen an andere weitergeben können.

----DANKE----

Danke Herr Großmeister Son